Dienstag, 1. Juli 2014

meine oma...


... wurde heute vor hundert jahren geboren.
das bild zeigt sie an ihrem 92. geburtstag, dem letzten, den sie feiern konnte, ganz links.
dazu meine mutter, ganz rechts, ich hinten in der mitte und vorne meine tochter. vier generationen also.


vor 22 jahren, noch zwei jahre vor ihrem achtzigsten geburtstag hat sie für mich in zwei einfachen schreibheften ihr leben beschrieben. sie hatte eine wunderschöne, flüssige schrift und so lese ich gerne ihre erinnerungen an ihre kindheit in hanau, an den garten und die typisch hessische grüne sosse, die aus kräutern aus dem garten hergestellt wurde, und daran, wie sie mit einer auf den rücken geschnallten, zugelöteten bonbondose im main von ihrem vater das schwimmen gelernt hat. ausführlich erzählt sie auch von ihrem grosseltern, vom grossvater, der noch ein soldat des württembergischen königs gewesen war, von ferienaufenthalten bei anderen verwandten, aber auch davon, wie schwer ihr vater nur den krieg verwinden konnte und wie gern er darum mit der familie in der natur unterwegs war. zum vater muss anni ein sehr gutes verhältnis gehabt haben, denn immer wieder schildert sie, wie er sie verwöhnt habe, obwohl sie wohl kein einfaches kind war. auch später klingt immer wieder an, dass sie sich als widerspenstig empfand, dass ihr vieles nicht leicht fiel, auch und vor allem die schule nicht, was vielleicht auch an ihrer intensiv ausgeprägten linkshändigkeit lag.
mit der weltwirtschaftskrise brach für die familie eine harte zeit an, mein urgrossvater war goldschmied und seine arbeit kaum mehr gefragt. 1926 wanderte er darum mit seiner familie in die schweiz aus - nach st. gallen. dort ging meine grossmutter zur schule und machte anschliessend eine lehre in einem handarbeitsgeschäft, sie erzählt von schulfreundinnen, aber auch vom heimweh der mutter nach der älteren tochter klara, die in deutschland zurückgeblieben war, um dort eine lehre als modistin zu machen. sie konnte später zwar nachkommen, doch bald darauf verlor der vater die arbeitsstelle in sankt gallen, trat eine neue stelle in hannover an und die familie wurde wieder getrennt.
meine grossmutter ging nach der lehre für eine zeit in einen haushalt in der welschschweiz, um französisch zu lernen - und erzählt von viel harter arbeit in einem grossen haushalt. nachdem sie auch noch krank geworden war, holte ihre mutter sie zurück nach st. gallen und sie fand mit ihren siebzehn jahren wieder eine stelle in einem wollgeschäft in teufen im kanton appenzell.
die mutter und der bruder zogen wohl mitte der dreissiger jahre zum vater nach hannover, meine grossmutter und ihre schwester klara blieben in der schweiz, wo sie zusammen das hutgeschäft führten, in dem die schwester die lehre beendet hatte. die schwestern hatten eine gute zeit zusammen, meine grossmutter schreibt von einer kleinen gemeinsamen wohnung mit zentralheizung und bad, von skikursen, turnverein, theatergruppe, und davon wie sie meinen grossvater zum ersten mal traf.
spannend zu lesen, wie hier nun wieder die zeitläufte in das leben hineinspielen: da ist zunächst die geschichte, wie sie meinen grossvater in friedrichshafen kennenlernte. nach friedrichshafen musste sie fahren, weil sie dort geld vom vater aus hannover abholen musste, devisen aus deutschland auszuführen war verboten und so wurde das geld von einem freund an den bodensee gebracht und im grunde genommen in die schweiz geschmuggelt - wie das dann mit dem umtausch funktioniert hat, schreibt sie nicht... dann findet die freizeitgestaltung der beiden jungen frauen vorwiegend in der "deutschen kolonie" statt, vermutlich sind also die deutschen in st. gallen ein stück weit unter sich geblieben und je länger je mehr muss das so gewesen sein, denn bald berichtet sie auch von anfeindungen im geschäft.
aber sie schreibt auch von liebesbriefen und vom bruder mit rosen und vergissmeinicht ziselierten verlobungsringen, von der vergeblichen suche nach einer wohnung und der hochzeit im august 1939 in der franziskanerkirche in schwäbisch gmünd. das junge paar wohnte in einem zimmer in der gastwirtschaft der schwiegereltern, mein grossvater eugen arbeitete nach wie vor in friedrichshafen beim luftschiffbau zeppelin und kurz darauf brach der zweite weltkrieg aus. da mag der strohsack im bett, der für anni dann doch gewöhnungsbedürftig war, nur ein kleines übel gewesen sein. ein grosses glück hingegen, dass eugen aufgrund seiner gesundheit nicht eingezogen wurde und eine stelle in schwäbisch gmünd fand, so dass die beiden beieinander sein konnte, wenn auch noch immer ohne eigene wohnung. die fanden sie erst im november 41, gerade noch rechtzeitig vor der geburt der ersten tochter im februar 42. noch zwei kinder wurden bis im oktober 44 geboren. einfach war das leben aber wieder nicht - es war krieg, eugen fuhr jeden tag von schwäbisch gmünd nach göppingen zur arbeit, der zug wurde immer wieder beschossen, oder fuhr wegen fliegeralarm nicht los, was bedeutete, dass die ganze strecke zu fuss zurückgelegt werden musste. die jüngste tochter, meine mutter, war rachitisch und musste mehrere wochen im spital behandelt werden. auch die bittere not kurz vor kriegsende beschreibt meine grossmutter - von selbstgebasteltem spielzeug für die kinder, aber auch davon, dass sie bei bauern um kartoffeln bettelte.
das kriegsende, oder vielmehr den einmarsch der amerikaner in gmünd, erlebte sie in einem bunker, zusammen mit meinem grossvater, aber ohne die eltern, die das wirtshaus nicht alleine lassen wollten. in einer anekdote verpackt findet sich denn auch die eine der wenigen erwähnungen des thema nationalsozialismus - so soll die mutter meines grossvaters einmal von einem gast aufgefordert worden sein, das kruzifix aus der wirtsstube zu entfernen, ihre antwort war darauf, dass der (jesus) hängen bleibe, denn der (jesus) sei vor dem da gewesen, mit verweis auf das hitlerbild an der wand gegenüber.
breiten raum nimmt dann wieder die schilderung der unmittelbaren nachkriegszeit ein, das wiedersehen mit der schwester, die aus dem sudetenland geflohen war, mit den eltern in hannover, die sie lange zeit nicht gesehen hatte, die nachricht vom tod des bruders in kriegsgefangenschaft und die währungsreform.
1948 zogen meine grosseltern dann um nach göppingen an den arbeitsort meines grossvaters. von der schulzeit der kinder berichtet meine grossmutter nicht sehr viel, dafür aber von krankheiten und unfällen, und notwendigen klinikaufenthalten, die grosse sorge und unmittelbare bedrohung wird gut spürbar. aber hier wird der bericht insgesamt weniger detailliert, die hochzeiten der kinder erwähnt meine oma kurz, ich kam 1967 als erstes enkelkind zur welt, die weiteren werden nur noch aufgezählt.
lebhafter wird der bericht dann noch einmal mit der beschreibung wie meine grosseltern ihre freizeit verbracht haben, zuerst im aquarienverein, später auch mit urlaubsreisen. ferien auf dem bauernhof machten meine grosseltern lange jahre - oft auch mit meinen eltern, den tanten, onkeln und enkelkindern - dort, wo mein grossvater mit 16 jahren eine knochentuberkulose auskurieren musste, nachdem sie den hof in einer ferienbroschüre wiederentdeckt hatten.
vor 33 jahren, am geburtstag meiner grossmutter starb mein grossvater und für sie änderte sich damit sehr viel. sie zog nur wenige monate später aus der stadt zu ihrem sohn aufs dorf. sie berichtet aber auch von ihrem leben dort, von der guten aufnahme in die seniorengruppe, von wanderungen, busreisen und geselligen nachmittagen. auch von der altersdiabetes, die wohl zum zeitpunkt des berichts gerade erst entdeckt worden war.

beim wiederlesen ist mir eigentlich jetzt erst bewusst geworden, wie persönlich meine grossmutter ihren bericht gehalten hat, nicht nur wendet sie sich an manchen stellen direkt an mich, sondern ist die lebensbeschreibung auch als eine art ergänzung zu sehen zu der zeit, die ich bewusst mit ihr erleben durfte. davon schreibt sie wenig - und so mag ich das noch ein wenig füllen.
als kind war ich gerne und viel bei den grosseltern, an nachmittagen oder in den ferien auch ganze tage oder manchmal auch wochen. wir wohnten lange zeit in gehentfernung und bei den grosseltern gab es einen grossen hof, mit wiese, bäumen und wäscheplatz wo sich die kinder zum spielen trafen. aber auch die erwachsenen sassen am nachmittag gerne zusammen. eine grosse küche mit zwei kochherden und backöfen hatte meine grossmutter und sie kochte sachen, die meine mutter nicht kochte, dampfnudeln oder hefeknöpfle kommen mir dabei als erstes in den sinn. guetslebacken, das fand auch immer in der küche bei der oma statt. gehandarbeitet wurde viel, gestrickt, gehäkelt, genäht, und ich war in meiner erinnerung gerne mittendrin. im esszimmer stand die nähmaschine auf einem kleinen beistelltisch, den ich nach dem tod meiner oma geerbt habe. es war eine italienische nähmaschine, eine borlotti, mit zierstichen, für die man hellblaue plastikrädchen irgendwo ins gehäuse versenken musste. aber auch für neue handarbeitstechniken war meine oma immer offen. ich hatte viele von meiner grossmutter selbstgemachte kleider, durfte dabei aber meiner erinnerung nach immer mitentscheiden, so dass ich die dann auch gerne getragen habe. einmal hatte ich sogar einen von ihr gestrickten bikini.
meine beiden söhne durften ihre grossmutter noch richtig gut kennenlernen. die tochter hat keine erinnerung mehr an sie. und aus den letzten von der urgrossmutter gestrickten socken wird sie demnächst auch herausgewachsen sein.

dass ich heute an ihrem hundersten ein bild von ihrer geburtstagsfeier zeigen kann, freut mich, denn ursprünglich war dieses viergenerationenbild verschollen... und es passt, denn das war ihr immer ein wichtiges anliegen, ihren geburtstag mit der familie zu feiern!

5 Kommentare:

  1. Das finde ich wunderbar. Eine sehr schöne Erinnerung. Leider habe ich so etwas von meiner Oma nicht, aber ich habe noch Briefe von ihr an mich, die ich hüte wie meinen Augapfel. Die Lebensgeschichte meiner Oma habe ich jedoch in meinem Kopf, denn sie hat mir zu Lebzeiten viel erzählt und ich habe es aufgesogen und bei mir behalten.
    Nun kannst du diese Heftchen deinen Kindern weiter vererben. :-)
    LG Katrin

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  2. Da bekomme ich Gänsehaut, wenn ich deinen Text lese. Das ist wirklich ein sehr wertvolles Erinnerungsstück an das Leben deiner Grosseltern, auch noch für deine Kinder. Die Kriege und die schwere Zeit haben viel durcheinander gebracht. Sehr interessant, dass deine Urgrosseltern in die Schweiz zogen und dann wieder weg und nun wohnst du mit deiner Familie in der Schweiz. Der Kreis schliesst sich.

    Danke, dass du die sehr persönlichen Erinnerungen mit uns teilst. Und auf dem Foto ist die Ähnlichkeit von dir zu deiner Mutter und hin zu deiner Grossmutter so schön zu erkennen.

    Hab einen schönen Tag.
    Liebe Grüsse,
    Marion

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  3. Ganz toll. Rührend.
    Meine Oma lebt noch, sie ist 97.
    Und ich selbst bin neuerdings Oma eines Baby-Enkelkindes.
    Hier wird es wohl auch Zeit für so ein Generationen-Foto!
    Liebe Grüße!

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    1. hei, das sind fünf (!) generationen! glg, stefanie.

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  4. Was für ein tolles Foto! $ Generationen Frauen...ich glaube, solche Bilder werden bald sehr selten.
    Liebe Grüße

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