Mittwoch, 3. April 2024

noémi speiser - the manual of braiding und an annotated classification of textile techniques

seit ich ende 2010 im rahmen meiner abschlussarbeit für den bildungsgang filz damit begonnen habe, mich mit dem thema flechten auseinanderzusetzen, bin ich immer wieder auf den namen noémi speiser gestossen. oder vielleicht auch gestossen worden - wenn ich mich nämlich nicht ganz falsch erinnere, hat monika künti mich auf die textilforscherin aufmerksam gemacht. und beinahe schon so lange steht ihr erstes buch, das "manual of braiding" auf meiner bücherwunschliste. 

plakat aus der austellung in basel

nun ist in diesem frühjahr ein weiteres werk von noémi speiser erschienen, eine - oder soll ich besser sagen: die - klassifikation der textilen techniken. (freundlicherweise wurde mir die neuerscheinung "an annotated classification of textile techniques" für eine besprechung vom haupt verlag zur verfügung gestellt) 

vergrösserte skizze zu maibaumtänzen mit bändern

begleitet wurde die herausgabe des buchs von einer kleinen ausstellung in der galerie praxis in basel. leider konnte ich nicht zur buchvernissage dort sein, aber am folgenden wochenende haben wir einen ausflug nach basel unternommen, um einen blick auf die von noémi speiser hergestellten flechterzeugnisse und die ausgestellten skizzen von ihrer hand zu werfen. dabei musste natürlich auch noch "the manual of braiding" mit nach hause. 

ausgestellte beispiele von noémi speiser

und nun habe ich genügend anlass, mich einmal ein bisschen genauer mit noémi speiser und ihren beiden werken auseinanderzusetzen. zur person findet sich wenig, der wikipedia-eintrag wurde erst 2024 angelegt. 1926 als tochter des basler unternehmers ernst speiser in england geboren, kam sie bereits in den frühen 30er jahren mit ihrer familie in die schweiz. ihr vater entstammte einer angesehenen basler familie, war in leitender position für die bbc in baden tätig und politisch als ständerat aktiv. vielleicht ist die kleine noémi gar nicht so weit von meinem schreibtisch hier aufgewachsen. 

noémi speiser selbst absolvierte eine ausbildung für textilgestaltung an der kunstgewerbeschule in basel und brach eine lehre als handweberin aus gesundheitlichen gründen ab. so kam sie bereits früh in kontakt mit dem ethnologen alfred bühler, der ihr zugang zur bedeutenden sammlung von textilien im völkerkundemuseum, heute museum der kulturen in basel verschaffte. eindrücklich erzählt sie dies selbst in einem sehenswerten video, das 2018 anlässlich der ausstellung "stroh zu gold" für das museum der kulturen entstanden ist. ein bisschen bekommt man hier auch eine ahnung, wie sie an ihre forschungsobjekte herangeht. 

um einen einblick in ihre arbeit zu bekommen, lohnt es sich, das vorwort des 1983 im eigenverlag erschienenen "manual of braiding" zu lesen. (2018 vom haupt-verlag neu aufgelegt in der version von 1988).

hier erzählt sie von den 1971 begonnenen feldforschungen in japan, wo sie sich der lange ausschliesslich mündlich überlieferten tradition des "kumi-himo" widmete, indem sie einen händler solcher textilien begleitete. in den einführenden zeilen wird auch ihre grosse passion für ihr thema sichtbar. "besessen" nennt sie ihr kollege peter collingwood und hebt hervor, dass sie nicht nur überhaupt als erste sich mit den diagonalgeflecht auf einer klassifizierenden, beschreibenden und analysierenden ebene auseinandergesetzt, sondern auch das ganze zur beschreibung notwendige vokabular selbst erschaffen hat. ihr ist es zu verdanken, dass "braiding" (das deutsche flechten ist keine adäquate übersetzung) als eigene textile technik und nicht als defizitäre form des webens wahrgenommen wird. nicht nach ethnologischen kriterien und nach ihrer herkunft beurteilt sie ihre forschungsobjekte, sie sucht den überblick und findet die gleichen strukturen an vielen orten auf der welt.

in den ausführungen über die entstehung des englischen texts und das komplett mit schreibmaschine und von hand entstandene layout scheint aber auch die isolation der urheberin durch die zeilen. meinen blick auf die zahllosen, detaillierten illustrationen hat diese einführung noch einmal komplett verändert. noémi speiser will keine anleitung geben - und empfiehlt doch, das buch von vorne nach hinten durchzuarbeiten. 

im bild gut sichtbar: die von noémie speiser entwickelten "track-plans", in denen das geflecht quasi in der aufsicht dokumentiert ist

und es macht lust dazu. bereits auf den ersten seiten habe einige themen entdeckt, die mich bei der eigenen auseinandersetzung mit dem flechten immer wieder beschäftigt haben. vielleicht gibt mir das buch neuen input, mich mit lange liegengebliebenen überlegungen wieder einmal von einer ganz anderen seite zu beschäftigen. 

beim blättern - und zu mehr bin ich bisher nicht gekommen - bin ich auf ein kapitel gestossen, in dem sie ihre heransgehensweise für die analyse bereits fertiger flechtarbeiten erläutert, denn man darf nie vergessen, dass der grossteil ihrer analysen nicht aus der beobachtung des prozesses, sondern aus den rückschlüssen besteht, die sie aus den fertigen produkten gezogen hat. 

diesen analytischen blick weitet noémi speiser in ihrer "annotated classification of textile technologies" auf das gesamte spektrum textiler arbeiten aus. im vorwort weist sie hier auf die schwierigkeiten der arbeit mit stücken aus einer sammlung hin: "in a final structure the process is lost". sie selbst hatte bei ihrer feldforschung in japan das glück, beides zu bekommen: die fertigen stücke zur späteren, teils auch zerstörenden analyse, aber auch die möglichkeit zur beobachtung des entstehungsprozesses. aus einem fertigen objekt, erklärt sie, kann man zwar die struktur erschliessen, niemals aber den konkreten entstehungsprozess, denn verschiedene wege können zum selben ergebnis führen. deshalb ist es notwendig, sich immer bewusst zu sein, was man beschreibt, das objekt oder den prozess.

"fibers to threads then to textiles, cannot exist by themselves and always have to linked to the surroundings, this necessarily includes the world far away in time and space." kein textiler gegenstand existiert ausserhalb der ihn umgebenden bedingungen und kann ohne das studium derselben verstanden werden. 

 

ihre einteilung in drei überkategorien erschliesst sich (zumindest mir) nicht auf den ersten blick: 

1. arbeiten mit einem faden

2. das verarbeiten eines fadensatzes

3. das einarbeiten von fäden in einen vorhandenen fadensatz

weit tritt sie für ihre einteilung von den beschriebenen objekten zurück und diese distanz macht es, anders als im manual, manchmal schwer nachzuvollziehen, um was für eine art von textiler struktur es sich da überhaupt handelt, zumindest dann, wenn man diese wenig gut kennt. 

 

hilfreich war es für mich, einmal bis zum kapitel 1 B drawing loops through loops (schlingen durch schlingen ziehen) zu blättern. da geht es um eher vertraute techniken, das häkeln, stricken, tunesisch häkeln. die techniken haben viele  gemeinsamkeiten, zumindest aus dem analytischen blickwinkel von noémi speiser. der arbeitsfaden ist unlimitiert, während der arbeit bleibt mindestens eine ungesicherte schlinge stehen und man kann durch ziehen am arbeitsfaden das werkstück wieder auflösen. 

zum herstellen kann man die finger nutzen, oder spezielle vorrichtungen wie eine strickliesel oder ein strickbrett. bei der differenzierten betrachtung von stricken und häkeln untersucht sie dann nicht nur die notwendige körper- und handhaltung, die arbeitsrichtung und den weg des garns, sondern auch die möglichkeiten, wie die maschen weiterverarbeitet werden und wie durch varianten muster entstehen. ein erfrischender blick auf eine selbstverständlich gehandhabte technik.


bei den weniger vertrauten techniken helfen die eingestreuten "specific cases" zu verstehen, wie die einteilung in die kategorien und subkategorien erfolgt. 

die zeichnungen stammen bis auf ganz wenige ausnahmen wieder aus der hand von noémi speiser selbst und sind auf eigentümliche art und weise gleichzeitig ärgerlich vage und ungeheuer illustrativ - so kann man an manchen stellen mit den augen der zeichnenden hand und damit auf eine art auch dem denkenden und analysierenden verstand dahinter folgen. 

noch weniger als das "manual" ist die "annotated classifikation" ein arbeitsbuch, oder enthält gar anleitungen. die anziehungskraft der die objekte, prozesse und zeichnungen beschreibenden texte besteht in der distanzierten einordnung und der sprachlichen genauigkeit, die gelegenheit gibt, selbstverständliches und alltägliches neu zu durchdenken. und dabei zu erkennen, welche grossartige leistung der menschheit die vielfalt der an so viele verschiedene zwecke angepassten textilen techniken darstellt. 

vielleicht ein buch für beide: liebhaberinnen von text und textil.


1 Kommentar:

  1. Ich habe noch nie von Noémi Speiser gehört, oder ihrer Forschung. Sehr spannend, ihre Vorgehensweise. Danke fürs Vorstellen der beiden Bücher, die kommen definitiv auf meinen Merkzettel.
    Liebe Grüße, heike

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