Mittwoch, 18. März 2020

15. bis 17. märz 2020 - skrupel und ausnahmen

zurück zuhause in unserem erwachenden frühlingsgarten fühlen sich die letzten beiden tage surreal an und ein bisschen wie ein am ende doch noch gut ausgegangenes husarenstück.

kurzversion ohne corona: ich bin am sonntagnachmittag von der schweiz aus aufgebrochen, um meine mutter deutschland zu einer geplanten augenoperation zu begleiten, die erste nacht nach der op bei ihr zu sein und sie am zweiten tag zur kontrolluntersuchung zu chauffieren. meiner mutter geht es gut und heute nachmittag bin ich wieder zuhause angekommen.

zwischendurch hat sich die ganze aktion aber vor allem eines angefühlt, nämlich ziemlich scheisse.

deshalb (und auch aus dokumentarischen gründen) auch noch die lange version, mit den besonderen umständen infolge corona-pandemie und einigem, was mich in diesen tagen beschäftigte:

wir hatten schon die vergangenen tage ein bisschen spekuliert, wie sinnvoll die reise nach deutschland anlässlich der sich verschärfenden massnahmen im rahmen der coronaprävention sein würde, waren aber übereingekommen, den termin nicht abzusagen, sondern ihn wahrzunehmen, wenn er nicht seitens der augenarztpraxis abgesagt werden würde. da vor vier wochen schon das eine auge operiert worden war, war der wunsch, diese angelegenheit abzuschliessen gross - denn eine korrekturbrille kann ja erst angepasst werden, wenn beide augen operiert sind. und erst danach ist die volle lebensqualität wieder erreicht. die erste op war sehr gut verlaufen und so waren wir beide guter dinge, was das zweite auge anbetraf.

den sonntagvormittag verbrachten ich mit der familie hier im garten, bei schönem wetter, mit dem einsetzen von pflanzen, mit rasenmähen und mit dem umbauen einer wassertonne. der grosse sohn kam noch vorbei, um mit uns kaffee zu trinken und gegen 15 uhr machte ich mich auf den weg. mit ein wenig gemischten gefühlen, denn der erste tag ohne schulbetrieb stand sowohl für kai als auch für die tochter an, an verschiedenen enden der organisation sozusagen und so ganz klar war ja nichts, ausser dass kai noch zu sitzungen ins büro reisen musste, die tochter aber zuhause bleiben würde.

ungefähr nachdem ich die hälfte der strecke zurückgelegt hatte, wurde in den nachrichten auf dlf gerüchteweise von einer schliessung der grenzen zu frankreich, der schweiz und österreich durch die deutschen behörden berichtet. mein erster impuls: ganz schön knapp, wenn die das wirklich umsetzen. die grenzschliessung wurde dann bestätigt, und für den kommenden morgen 8 uhr angesetzt. immer mehr kristallisierte sich der grund heraus: es sollte vor allem dem einkaufstourismus einhalt geboten werden, pendler und heimkehrer aus den ferien sollten selbstverständlich die grenze weiterhin passieren dürfen. ausserdem reisende mit wichtigem grund.

hätte mein reisezweck als wichtiger grund gegolten? kamen mir rasch zweifel am sinn einer solchen regelung mit so vielen ausnahmen, weil sie wirklich seltsam inkonsequent anmutete oder weil sie mich betroffen hätte, wäre ich einen tag später losgefahren? 

die weiteren meldungen, die im halbstundentakt eintrafen, obwohl mir der sonntagabend noch recht ruhig vorkam, verschwimmen mir im gedächtnis. der katastrophenfall in bayern ausgerufen, war das zuvor oder nachher?

der plan, die augen-op durchzuziehen, angesichts solcher anstehender massnahmen verlor ein bisschen von seiner brillanz und anziehungskraft. würde ich nicht meine mutter in gefahr bringen, weil sie inklusive nachsorge drei termine ausser haus vor sich hatte? dazu noch einer, zu dem ich sie nicht begleiten konnte, weil er erst nach einer woche stattfinden sollte? 

jedenfalls gingen in baden-württemberg, wo meine mutter lebt, die kinder am montag noch zur schule. und auch in der innenstadt, wo ich mir die zeit vertrieb bis ich meine mutter nach der operation wieder abholen konnte, waren nicht wenige menschen unterwegs. keineswegs nur junge - ebenso viele alte menschen, die rein vom augenschein der risikogruppe zuzurechnen waren, waren in den geschäften und in der fussgängerzone zu sehen. war nicht in den vergangenen tagen immer wieder klar darauf hingewiesen worden, dass diese besser zuhause bleiben sollten, um so eine ansteckung zu vermeiden?

aber ja, wir waren ja auch unterwegs, vielleicht wollten ja auch die anderen alle nur schnell noch zum arzt, oder anderes unaufschiebbares erledigen? 

am mittag erledigte ich für meine mutter den einkauf für die nächste zeit. wie schon bei der ersten op wollte sie sich ohnehin für ein paar tage schonen, keinesfalls einkaufen gehen. nur diesmal fiel der einkaufszettel halt noch ein bisschen üppiger aus, so dass sie einige zeit überbrücken kann. frisches brot und sicher auch ein bisschen obst und gemüse kann die nachbarin einkaufen, die das angeboten hat. auch im supermarkt das selbe irritierende bild: ein voller parkplatz, viele menschen im markt trotz mittagszeit, auch eltern (mehrzahl) mit kindern (mehrzahl) und wieder einige hochbetagte paare. soziale distanz - davon schien auch höchstens die hälfte der menschen gehört zu haben. oder davon das risiko einer ansteckung möglichst gering zu halten indem man nicht mit der ganzen grossfamilie loszieht um die letzten packungen klopapier zu ergattern. machte mich das alles nicht auch deshalb so nervös, weil ich damit gerechnet hatte, dass die anderen nicht mehr so viel unterwegs sein würden und so meine mutter bei ihren notwendigen gängen nicht unnötigen begegnungen ausgesetzt sein würde?

am späten nachmittag und frühen abend ging es dann wieder los mit den sich jagenden neuigkeiten - der schweizer bundesrat kündigte eine medienmitteilung an, parallel erliessen weitere europäische staaten diverse regelungen, mehr oder weniger drastisch. eine rede emanuel macrons an die franzosen war angekündigt, eine ebensolche der deutschen bundeskanzlerin. ausgangssperre in frankreich - nous sommes en guerre - drastische massnahmen in deutschland inklusive schliessung aller läden ausser des täglichen bedarfs, aber auch der spielplätze und in der schweiz die erklärung der ausserordentlichen lage. die nachrichten trafen mittlerweile parallel ein - wir schauten deutsches fernsehen, aber mein mobiltelefon schickte mir die news aus der schweiz. und mittendrin der satz, dass nur noch schweizer und schweizerinnen die grenzen zu unserem gastland überqueren dürften, gültig ab mitternacht. glücklicherweise konnte ich rasch auf der seite des bundesrats nachlesen, dass das natürlich auch für menschen mit einem aufenthaltstitel in der schweiz (wie mich) gelten sollte, aber der schreck sass tief. vorerst hätte ich noch einreisen können, aber was wenn morgen wieder etwas anderes beschlossen worden wäre? nun fing auch meine mutter an, sich vorwürfe zu machen, dass sie mich mit ihrem beharren auf der op in eine solche lage gebracht habe. die vernunft sagte ganz klar, dass die einreise kein problem darstellen sollte, aber wie gesagt: der schreck. andererseits hatte ich ja am nachmittag gesehen, dass nur drastische massnahmen die menschen zu einer verhaltensänderung bringen können, vielleicht braucht es ausgangssperren mit androhung von strafen - aber doch bitte nichts, was meine pläne durcheinander bringt! jeder betrachtet sich als den einen ausnahmefall, das eigene anliegen ist immer das wichtigste - und ich kann mich nicht einmal vollständig davon ausnehmen. 

jedenfalls brachte ich meine mutter zu ihrer kontrolle, alles gut - aber das medizinische machte uns ja die meiste zeit die wenigste sorge. die augenarztpraxis hatte, anders als das ambulante operationszentrum am tag zuvor auch durchaus vorkehrungen getroffen, dass sich die patienten nicht zu dicht auf die pelle rücken mussten, so wurden zum beispiel keine begleitpersonen im wartezimmer geduldet. mein plan war das sowieso nicht gewesen, ich ging lieber wieder ein bisschen durch die stadt, wo die läden, anders als in der schweiz, noch überall geöffnet hatten. sei es wegen des regens, sei es weil doch die vernunft sich durchsetzte, war aber deutlich weniger los als am tag zuvor. und der zweite kontrolltermin nach einer woche wurde für nicht dringend notwendig eingestuft - eine sorge weniger durch einen gang in die stadt weniger. kein bus, kein taxi, kein zu organisierender bring- und holdienst und vor allem auch kein weiterer aufenthalt im wartezimmer der augenarztpraxis für meine mutter.

kurz bevor ich mich auf den rückweg machen konnte, wurde es dann noch ein bisschen absurd: ein erst noch einziehendes pärchen aus dem erdgeschoss stand an der wohnungstüre - aber nicht etwa um wie so viele andere menschen älteren nachbarn hilfe in der krise anzubieten, sondern um anzukündigen, dass meine mutter ihre garage bis anfang april zu räumen habe. (sie haben ein anrecht auf die garage, mit den vorbesitzern gab es ein arrangement auf gegenseitigkeit, aber sie haben sich seit einem jahr nicht um die ihnen zustehende garage gekümmert und die besitzverhältnisse sind eher unklar.) also packte ich noch kurz an, räumte sommerreifen und schneeschippen in den keller um meiner mutter die sorge um die räumung zu nehmen. nicht ohne die faust in der tasche zu machen und die dreistigkeit dieser menschen zu verfluchen. 

die autobahn war dann eher leer, vor der grenze stand ich zwanzig minuten zwischen lkws im stau und als mich der grenzpolizist anhielt, hatte ich den ausweis samt aufenthaltsbewilligung griffbereit. der indes fragte wie immer: öppis ichauft? (etwas eingekauft? - korrekt: führen sie waren mit?) ich war so verdattert, dass ich die gründe für meine reise so herstammelte, dass es mich nicht gewundert hätte, wenn mein kofferraum durchsucht worden wäre, anstattdessen winkte man mich weiter.

kurz überlegte ich mir, ob ich vielleicht die letzten tage einfach nur schlecht geträumt hatte.

aber dann standen am strassenrand immer noch die gleichen schilder, auf denen die ankündigung des jodlerabends breit mit "abgesagt" überklebt waren.



gelesen: joan aiken, du bist ich
gesehen und gehört: zu viele news auf einmal und einmal zu wenig genau

1 Kommentar:

  1. Martin arbeit mit Grenzgängern zusammen. Die haben erzählt, der deutsche Zollbeamte nimmt die Papiere nicht in die Hände und lässt sie sich nur zeigen. Der Schweizer nimmt sie in die Hände und schaut alles genau an.
    Ich weiss ja nicht, ob das klug ist...
    Verrückte Zeit..

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